Mittagsstunde (Dörte Hansen)

„Mittagsstunde“ ist nach „Altes Land“ der zweite Roman von Dörte Hansen. Das 2018 im Penguin-Verlag erschienene Werk ist wie sein Vorgänger wieder in Dörte Hansens norddeutscher Heimat angesiedelt. Der Großteil des Romans spielt in dem fiktiven nordfriesischen Dorf Brinkebüll – ein Dorf, wie es früher viele davon gab: eine eigene Kirche, ein Tante-Emma-Laden, eine Schule, mehrere Bauernhöfe und eine Dorfkneipe mit sonntäglichem Stammtisch.

Dr. Ingwer Feddersen, Dozent, Grabungsleiter und Hochschullehrer in Kiel kehrt mit knapp 50 Jahen zurück in das Dorf seiner Kindheit, um seinen Großeltern Ella und Sönke ein wenig von dem zurück zu geben, was sie früher für ihn getan hatten.  Seine Großeltern hatten ihn wie ihr eigenes Kind groß gezogen, nachdem ihre Tochter Marret mit 17 Jahren schwanger wurde, aber zu sehr in ihrer eigenen Welt lebte, um sich um ihr Kind kümmern zu können. Nun sind die Großeltern altersschwach und Ella leidet an zunehmender Demenz. Ingwer hat sich ein Jahr Auszeit von seinem Job genommen, um die Pflege der beiden zu übernehmen.

Ausgehend von der Familie um Sönke, Ella, Marret und Ingwer Feddersen erzält Dörte Hansen die Geschichte des Dorfes von den 60er Jahren bis zur Gegenwart – von einer Zeit, in der die titelgebende Mittagsstunde zwischen 12 und 14 Uhr noch streng eingehalten wurde, bis hin zu einem Dorf, welches sich zu einer bequem mit dem Auto zu erreichenden Ansiedlungsmöglichkeit für Berufspendler gewandelt hat.

Nach und nach erfahren wir immer mehr über das Dorf und seine Bewohner. Über den Alltag und die kleinen und großen Dramen. Darüber, dass nichts ist wie es scheint.

Dörte Hansen wechselt hierbei von Kapitel zu Kapitel zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her, jedes Kapitel mit einem Musiktitel als Überschrift versehen. Dieser Titel gibt die Richtung des Kapitels vor und spätestens am Ende des Kapitels muss man feststellen, dass dieser treffend gewählt war.  Schlager aus früheren Tagen wechseln sich hier ab mit Songs von Größen wie Bob Dylan, Eric Clapton und immer wieder Neil Young – der bevorzugte Interpret von Ingwer Feddersen in diesem Roman.

Dörte Hansen schafft es in beeindruckender Weise, auf knapp 250 Seiten 50 Jahre Dorfgeschichte bildlich darzustellen und dabei nichts auszulassen. Mit wenigen Worten gelingt es ihr, Begebenheiten zu skizzieren, Emotionen auszudrücken und Situationen zu beschreiben. Ein Beispiel hierfür ist die Heimkehr von Sönke nach dem Krieg, die Dörte Hansen ihren Protagonisten wie folgt erleben lässt: „Alles hatte er bedacht und überlegt und ausgerechnet in der langen Zeit, nur diese Frage hatte er sich nie gestellt: ob man zu Hause noch willkommen war. Auf manche Dinge kam man nicht.“.

Worte, die bereits beim Lesen zum Nachdenken anregen und nachhallen.

Manch Andeutung in den ersten Kapiteln wird erst in den hinteren Kapiteln verstanden, manchmal taucht die Auflösung genauso überraschend auf wie der Anfang des Gedankens. Alles findet sich am Schluss zusammen.

Ich bin selber in einem Dorf aufgewachsen und in vielem, was Dörte Hansen hier beschreibt, finde ich mein süddeutsches Dorf in den 70er Jahren wieder. Auch hier ist heute nichts mehr, wie es früher war. Von den vier Einkaufsläden von früher ist keiner geblieben, dafür steht am Dorfrand ein großer Supermarkt, die Bäckereien haben alle dicht gemacht, das ehemalige erste Hotel am Platz ist eine Ruine und wenn ich durch die Straßen von damals gehe, kenne ich noch kaum einen Menschen. Die Zeiten ändern sich, nichts bleibt wie es war.

Dörte Hansen bringt es auf der letzten Seite in ihrem Roman ohne Melancholie auf den Punkt: „Die Zeit der Bauern ging zu Ende… Zeitalter fingen an und endeten, so einfach war das.“

Oder um es mit Neil Young zu sagen: „Comes a time…“.

 

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